Lothar Glauch.
Autor, Journalist und Medientheoretiker.



Lothar Glauch.
 
Fachjournalist - Data Analysis. Data Ethics. Medientheorie.





.Home.
.Vita.
.Artikel.
.Rezensionen.
.Portraits.
.Kontakt.
.Impressum.





· Mein Schwarzer Schädel (Aris Fioretos)
· 1979 (Christian Kracht)
· Windows of the world (Frederic Beigbeder)
· Hochzeitsvor-bereitungen (Marcus Braun)
· Stupid white men (Michael Moore)
· Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen (Alban Nikolai Herbst)
· Grenzgänger. Wunderheißer. Pflastersteine (Annett Gröschner & Olaf Lippke)
· Nach der Postmoderne (Jost Hermand)
· Remas Haus (Silke Andrea Schuemmer)
Ultrachronos (UC) (Helmut Krausser)
D´Annunzio, Aragon, Powys, Pynchon - die fantastischen Vier
"Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen" von Alban Nikolai Herbst


Ein Heulen kommt über den Äther, so in etwa ließe sich am 14. September 2001 das berühmte Pynchon-Zitat paraphrasieren. Denn just drei Tage nach der Zerstörung des World Trade Center sendet der Deutschlandfunk die Hörfunkcollage "Slothrop´s Verschwinden oder: Das war Thomas Pynchon". Eine Ausstrahlung, die sich bestens in das aktuelle Zeitgeschehen einfügt, da in dem Hörstück unter anderem die V2-Luftangriffe auf London diskutiert werden. Eine Absicht verfolgten die Programmgestalter des Deutschlandfunks damit allerdings nicht, dieser Tagesaktualität stand allein der Zufall Pate.

Apropos Zufall: Bei Thomas Pynchon (*1937) wird selbiger schnell zum Problem. Der US-Amerikaner hat in seinen Werken immer wieder spekuliert, ob es den Zufall überhaupt geben kann. In Pynchons Weltanschauung ist alles mit allem verknüpft, und zwar auf eine hochkomplexe Weise, so dass die Wechselwirkungen niemand auch nur ansatzweise nachvollziehen kann. Auch Pynchon selbst nicht, weshalb sich seine These zu einer bloßen Behauptung reduziert.

Den Autor aber schreckt diese Vagheit nicht, im Gegenteil, er kultiviert die Mutmaßung und macht sie sogar zu seinem Markenzeichen: Immer wieder kommt er auf jenes unsichtbare Band zwischen den Dingen zu sprechen, welches sich mithin zum Mysterium auswächst, und das immer neue Namen bekommt: "V", "Nr. 49" oder "Vheissu". Ein Geheimnis beziehungsweise eine geheime Kraft, die nicht immer eine positive Kraftwirkung besitzt, so dass es sich deshalb am besten mit dem Begriff Verschwörung arbeiten lässt.


Der Regenbogen der Schwerkraft

Dieser Weltanschauung würde sich der Verfasser der Hörfunkcollage wohl anschließen. Der nämlich heißt Alban Nikolai Herbst, jener Berliner Autor, von dem neuerdings selbst die Boulevardpresse Kenntnis genommen hat, weil sein im letzten Herbst erschienener Roman "Meere" skandalisiert wurde, und anschließend sogar verboten. Bei "Slopthrop´s Verschwinden" hat sich der Romancier nun als Kompilator betätigt. Er entnimmt Pynchons Hauptwerk "Gravity´s Rainbow" (deutsch: "Die Enden der Parabel") prägnante Zitate und konfrontiert diese mit so unterschiedlichen Autoren wie Walter Benjamin, Thomas Mann oder Rainer Maria Rilke. Zudem flicht er Textstellen aus seinen eigenen Büchern ein.

Kristallisationspunkt der Collage ist zum einen Thomas Pynchon selbst, der seit seinem erfolgreichen Romandebüt "V." jeden öffentlichen Auftritt vermieden hat und inzwischen den Nimbus des großen Unbekannten genießt. Zum anderen dreht sich das Hörstück um Pynchons Romanfigur Tyrone Slothrop, dem Helden der Raketenromanze rund um die V2 in "Gravity´s Rainbow" (1973).

Das Zweite Weltkriegs-Epos wurde seinerzeit von der Kritik, aber auch von der Leserschaft mit großer Verwunderung aufgenommen. Etwas Vergleichbares ließ sich in der Literaturgeschichte nicht finden, und in seiner Machart ist es bis heute unerreicht. Auf 1000 Romanseiten zeichnet Pynchon ein Sittengemälde, das mit päderastischen, psychedelischen und sadomasochistischen Fantasien derart angereichert ist, dass im Vergleich dazu die eigentlichen Gräuel des Krieges geradezu als netter Dekor erscheinen.

Den Krieg selbst als rohe Gewalt oder Barbarei zu brandmarken, versucht Pynchon bestenfalls am Rande. Vielmehr konzentriert er sich auf die Effekte der neuen Techniken, er wirft heimliche Blicke in die Forschungslabors der Waffenindustrie, wo die Tötungsmethoden von Morgen designt werden, und spekuliert über die daraus resultierenden Angstszenarien. Gegen Ende konzentriert sich die Weltkriegs-Odyssee schließlich auf den Aufbau einer kunstvollen Bedrohungskulisse, und zuletzt wird sogar der Leser zur Zielscheibe. Pynchon setzt den Leser, der soeben die letzten Buchseiten liest, kurzerhand in einen Kinosaal, auf welchen die todbringende Rakete zujagt. Wird eingangs des Romans noch der Aufstieg der V2 geschildert ("Ein Heulen kommt über den Himmel"), so bildet am Schluss der fabulierte Raketenangriff auf den Leser das andere Ende des Regenbogens der Schwerkraft.

Ein Heulen kommt über den Himmel – dieses Zitat wird von Herbst in die Collage eingewirkt und leitmotivisch wiederholt, ein Kernsatz, der in der Funkausstrahlung vom 14. September 2001 für manche Gänsehaut gesorgt haben mochte. Nicht nur die Parallelität von Raketenangriff hier und Flugzeugangriff dort, ist augenfällig, sondern auch die mediale Metapher: Was der Fernseher am 11. September war, ist das Kino in "Gravity´s Rainbow", und der Hörfunk in "Slothrop´s Verschwinden". Mit anderen Worten, es ist immer ein Medium, das die Bedrohung inszeniert und zugleich konstituiert.


Hören lesen

Die Pynchon-Hörcollage ist die jüngste von vier Radio-Fantasien, die Alban Nikolai Herbst im Januar im Elfenbein Verlag publiziert hat. Der Berliner Verlag hat sich damit für eine ungewöhnliche Publikation entschieden, welche auch in dem Verlagsprogramm eine Sonderstellung einnimmt. Eine grundsätzliche Frage stellt sich sofort: Warum in aller Welt sollte man Radio-Fantasien lesen?

Dieses Genre ist so gewagt wie selten, beinahe möchte man von einem Luxusprojekt sprechen. Das Buch aber rechtfertigt seine besondere Form in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur, dass der Leser sich im hörenden Lesen schulen kann, endlich werden einmal Autoren vorgestellt, die sich nur schwer in den Literaturkanon einfügen lassen. Sie haben seit jeher mehr Widerspruch provoziert, als einhellige Begeisterung hervorgerufen. Überdies sind die in dem 154-Seiten-Taschenbuch vereinten vier Charaktere sehr verschieden, was Abwechslung garantiert.

Da ist Gabriele D´Annunzio, der im ersten Weltkrieg als Pilot für sein Land kuriose Feindflüge unternahm, einmal sogar auf eigene Faust in einem Zweisitzer, um Flugblätter über Wien abzuwerfen. Da ist Louis Aragon, der erklärte Kommunist und Stalinfreund, berühmt-berüchtigter Heißsporn und Messerstecher der Pariser Caféhausszene. Da ist John Cowper Powys, der walisische Romancier, aufgrund seiner naturnahen Lebensweise der wohl Unauffälligste der "Fantastischen Vier". Sowie schließlich der ehemalige Marinesoldat Thomas Pynchon, der in jungen Jahren beim Flugzeughersteller Boeing arbeitete und immer wieder die Waffentechnik thematisiert hat.

Herbst ironisiert seine Auswahl an einer Stelle sogar selbst: Dass er damit seinen schlechten literarischen Geschmack verriete. Gleichwohl lässt diese Auswahl auch weniger ironische Rückschlüsse auf Herbst selbst zu. In den vier Autorenportraits offenbart sich seine Vorliebe für

a) die Kriegs- oder Waffenthematik, die auf die portraitierten Autoren (ausgenommen Powys) eine geradezu erotische Sogwirkung ausübt

b)heikle politische Weltanschauungen, so D´Annunzios zwiespältiges Verhältnis zu den Faschisten, oder Aragons vehementes Eintreten für Stalin, oder aber Pynchons teilweise drastisches Possenspiel zum 2. Weltkrieg

c) für die Selbst-Stilisierungen der Autoren, bei denen die Fabulistik nicht nur auf die Bücher beschränkt blieb, sondern auch ihr Leben selbst beeinflusste.

Wobei der letztgenannte Aspekt der wichtigste ist. Herbsts Portraits verraten viel über das Selbstverständnis der jeweiligen Autoren. Aragon etwa erfindet sich selbst neu, indem er einen Kunstnamen annimmt, Pynchon mimt schon zu Lebzeiten den toten Autoren und verschwindet völlig von der Bildfläche, D´Annunzio spielt eine Kreuzung aus emphatischen Dandy und theatralischen Clown, und Lowys, der gelegentlich sein Zweit-Ich vorzeigt, wenn er den Wahnsinnigen simuliert, weit draußen fernab der Städte, am Busen von Mutter Natur lebend.


Konstruktivismus und Fiktion

"Und mag ich auch die Geschichte eines anderen erzählen, es ist immer meine eigene." (Louis Aragon, nach Herbst)

Herbsts Rekurs auf das Identitätsthema lässt sich auch in seinen Romanen finden, viele seiner Protagonisten wechseln ihre Identität, werden als Charakter gewaltsam zersplittert und wieder neu zusammenfügt. Und weil Herbst sehr oft Ausflüge in die Welt seiner Romanfiguren unternimmt, beansprucht er auch bei den Radiofantasien eine wichtige Sprecher-Rolle für sich.

Die Autoren werden in den Portraits persönlich angesprochen, ja mitunter zur Rechenschaft gezogen. Obgleich sie die Antworten schuldig bleiben, werden Entgegnungen dann mittels Zitaten aus ihren Büchern eingeflochten, oder aber ihre Romanfiguren ergreifen für sie das Wort.

Herbsts Portraits sind keine Weichzeichnungen, oft sind sie sogar das Gegenteil davon: entlarvend und an den empfindlichsten Stellen entblößend. Als Hommage liest sich einzig das letzte Hörstück, die Pynchon-Collage. Insbesondere Aragon hat einen schweren Stand, die heftigen Anwürfe zielen auf sein Wirken als homo politicus. Hierbei ist fragwürdig, ob man Elsa Triolet kurzerhand als Marionette Moskaus abstempeln kann, die Aragon offenbar mit ihrer weiblichen Hexenkunst verzaubert hat und von der vermeintlichen Lichtgestalt Breton zum Dunkelmann Stalin wegführte.

Der eher konservative D´Annunzio hingegen wird freundlicher behandelt. Wiewohl auch er ab und an mit Häme bedacht wird (was bei einem affektierten Dandy gewiss nicht unberechtigt ist), erfährt er dennoch eine Aufwertung. Womöglich, weil D´Annunzio von allen Seiten automatisch für seinen Pathos gescholten wird, und eben dieser allgemeinen Stoßrichtung gibt der Querdenker Herbst dann Breitseite.

Laut Herbst hat sich D´Annunzio gegen Vereinnahmungen von Seiten Mussolinis gewehrt, stets auf seine dichterische Unabhängigkeit bestanden. Die Vaterlandsliebe war ihm ein Herzensanliegen, aber solch ein Patriotismus definiert sich nicht zwangsläufig über den Faschismus. Herbst indes streift dieses Thema nur, konzentriert sich mehr auf den D´Annunzio, der sein eigenes Leben erfunden hat, um schon zu Lebzeiten als Mythos zu gelten. Eine Handpuppe seiner selbst, könnte man meinen. Nur manchmal treibt er sein Spiel zu weit und muss ganz real die Flucht ergreifen, weil ihm seine Gläubiger auf den Fersen sind. Kurzum, hier wird uns das Schicksal eines Seiltänzers und Hasardeurs gezeigt, der immer bemüht war, seine eigene Identität zu manipulieren, zu frisieren – und letztlich zu dekonstruieren.


Wahrheit und Erfahrbarkeit

Jene Neigung zur Ich-Montage teilt D´Annunzio nicht nur mit Aragon und Pynchon. Auch Alban Nikolai Herbst hat zu Beginn seiner Laufbahn einen Identitätswechsel vollzogen: Unlängst wurde bekannt, dass sein Name ein Kunstname sei, in Wahrheit sei er der Enkelsohn vom reichsdeutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop.

Das inzwischen verbotene Buch "Meere" behandelt dieses Thema ebenfalls, und laut Julia Encke (Süddeutsche Zeitung) weiß der Roman weniger durch die strittigen Sexszenen zu berühren, als durch jene Geschichte von dem Künstler Fichte, der darunter leidet, der Enkel eines Nazi-Verbrechers zu sein.

Es ist denkbar, dass Herbst das Buch nutzte, um sein eigenes Outing zu flankieren, um die Rückkehr in die alte Ribbentrop-Identität zu versuchen. Möglich wäre allerdings auch, dass dies nur eine weitere perfide Stilisierung, ja Farcierung des Identitätsthemas darstellt, also dass Herbst sich dies einmal mehr nur ausgedacht hat, um den für skurrile Geschichten stets begeisterbaren Amüsierbetrieb zu nasführen.

Diese Skepsis mag kleinkariert wirken, insbesondere angesichts der Tatsache, dass sich viele Nachfahren der NS-Führungselite bis heute unter ihren neuen Namen verstecken. Andererseits ist man Herbst eben diese Skepsis schuldig, da dieser sie selbst in gleicher Weise auf die Welt – bzw. seine Umwelt – anwendet. Seiner Weltanschauung nach steht er dem radikalen Konstruktivismus nahe. Dieser theoretische Unterbau macht aus den Hörcollagen mitunter Exkursionen ins poetische Niemandsland.

Aber während die Konstruktivisten sich darauf beschränken, das von ihnen selbst Erfahrbare zu glauben, zitiert Herbst Aragon, um dem Konstruktivisten das letzte Stück Selbst-Vertrauen zu entreißen. Und das Vertrauen in die eigene Gedankenklarheit bekommt hier deutlich Schlagseite:

"Man entkommt einer Illusion nur mittels einer anderen."

An anderer Stelle nimmt Herbst die Geschichtsschreibung ins Visier und paraphrasiert damit Pynchon, der in "Gravity´s Rainbow" ein Zweiter Weltkrieg-Szenario entworfen hat, das kaum mehr ist als eine fröhliche Mixtur aus Baedeker und üblichen Kompendien, eine Art "history fiction" also:

"Geschichte, Geschichtsschreibung ist Dichtung; alles, was wir nicht kennen, nicht selbst erlebt haben, müssen wir e r f i n d e n."

Da wir die meisten Informationen nicht überprüfen können, die uns erreichen, erschafft unsere Fantasie demnach eine Modellwelt nach eigenem Gusto. Jenem immensen Skeptizismus in Sachen Erkenntnis und Wahrheit kann folglich nur noch eines beikommen: Die Fantasie. Bei Herbst sind alles Fiktionen, bzw. Vorstellungen. Ein jeder legt sich folglich die Welt zurecht, wie er sie haben möchte.


Irgendwo zwischen Auge und Ohr

"Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen" ist ein gelungenes Buch, abwechslungsreich, assoziativ, immer die Balance haltend zwischen Tiefgang und Anekdote, und überdies sprachlich sehr elegant und eloquent. Als gelegentliche Schwächen konnte ich nur die mitunter allzu energisch mahlende Zitatenmühle ausmachen: Ein Chaos der Stimmen, die aufgeregt durcheinander sprechen und historische Fakten mit Mutmaßungen vermengen, was nicht immer nur für Erhellung sorgt.

Ein Bonbon gibt es auch noch zu guter Letzt: Dem Buch liegt ein fünftes Hörstück als CD-Rom bei. Sie rundet das Werk ab und gewährleistet den Medienvergleich zwischen Lese- und Hörlektüre. Denn wo das Auge immer wieder an eine interessante Stelle zurückkehren kann, wahrt das Ohr jene ätherische Flüchtigkeit und traumwandlerische Grazie, es erhebt nicht den Anspruch, letzte Gewissheiten zu artikulieren.

Dass dem Buch auch noch digitales Material beigefügt wurde, zeigt übrigens ein noch nicht erwähntes Markenzeichen von Alban Nikolai Herbst: Kaum ein Autor der Gegenwart hat sich den Digitalmedien derart weit geöffnet, seine Anderswelt-Romane beispielsweise verlassen über weite Strecken die Analogwelt und fabulieren Szenarien der Digitalwelt von Morgen und Übermorgen.

Wer Alban Nikolai Herbst hingegen zu hundert Prozent digital erleben möchte, besucht ihn am Besten auf http://www.albannikolaiherbst.de. Der Webseite ist seit Neuesten auch ein Weblog eingegliedert, so dass man sich dort die tägliche Dosis Herbst abholen kann...





online abrufbar unter:

www.satt.org



Webdesign: www.configthis.net www.configthis.de