Lothar Glauch.
 
Fachjournalist - Data Analysis. Data Ethics. Medientheorie.





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Ein Selbstgespräch mit dem Leser
Frederic Beigbeders "Windows of the world"


Die vier Zitate und zwei Widmungen zu Eingang des Buchs wirken wie eine Einladung zum Hürdenlauf. Der Manhattan-Poet Walt Whitman darf seinen "Song of the Exposition" zum Besten geben, ihm folgt ein plakatives Kurt-Cobain-Tagebuchzitat: „Kill the Rockefellers!“

Dazwischen schiebt sich die erste Widmung „Verzeih mir, Chloë, dass ich auf diese zerstörte Welt dich zerrte“, gefolgt von einer Zweiten: „Gewidmet den 2801 Toten“.
Auf der nächsten Seite folgt ein mit der Chiffre "Blitzableiter" versehenes Tom-Wolfe-Zitat, das die Orientierungslinie für "Windows of the world" vorgeben soll: „Ich glaube, dass ein Schriftsteller, der keine realistischen Romane schreibt, von den Herausforderungen der Zeit, in der er lebt, nichts versteht.“

Und auch Marilyn Manson darf sich zum wahren Künstlerdasein im 21. Jahrhundert bekennen: „Aufgabe des Künstlers ist es, sich ins Herz der Hölle zu stürzen.“

Damit sind die ersten Hürden genommen, und der Leser kann endlich auf Höllenfahrt gehen. Um 08:30 Uhr jenes 11.09.2001 beginnt die Zeitleiste des Buches, das sich zwar "Roman" nennt, aber in Wahrheit bestenfalls ein "Essay mit narrativen Motiven" ist. Auch die Anspielungen auf Milan Kundera helfen da nicht weiter, denn die Galionsfigur des zeitgenössischen feuilletonistischen Romans ("Die Unsterblichkeit", "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins") hat sich lediglich an die Grenze des Genres herangewagt, Frederic Beigbeder hingegen ist noch einen großen Schritt weiter gegangen.

Zwei Stunden wird der Leser nun Minute für Minute durchzählen, ein Countdown des Todes für die Menschen in dem Café „Windows of the world“. Und das korrespondiert mit dem ersten echten Satz des Buches:

„Sie kennen alle das Ende: Alle sterben. Natürlich trifft der Tod eine ganze Menge Leute, früher oder später. Das Originelle an dieser Geschichte ist, dass alle zur selben Zeit und am selben Ort sterben.“

Womit Beigbeder die Losung ausgibt: Originell. Als Ex-Werbetexter ist er offenbar auf Originalität abonniert. Das Buch, mit dem er auch in Deutschland bekannt wurde („39,90“), handelte nicht zufällig von der hysterischen, hyperventilierenden Werbebranche, hier plauderte einer aus dem Nähkästchen und wurde dafür als Nestbeschmutzer beschimpft und schließlich sogar gefeuert. Woraufhin er mehr Zeit hatte, seine Originalität auf literarischem Gebiet zu erproben: Statt Slogans für die Warenwelt schreibt er nun Bücher, die amüsanterweise am ehesten Aphorismensammlungen gleichen.

Allerdings bereitet ihm das neue Thema von Anfang an große Probleme, was Beigbeder auch offen eingesteht:

„Die Realität behindert das Schreiben dieses hyperrealistischen Romans. Seit dem 11. September 2001 wird die Fiktion von der Realität nicht mehr nur übertroffen, sondern ausgelöscht. Man kann über das Thema nicht schreiben, man kann auch über nichts anderes schreiben. Nichts erschüttert mehr.“

Das wird er noch öfter tun: Sich fragen, was er eigentlich tut. Wieso, weshalb, warum, er findet viele Worte, aber er hat keinen Plan. Dabei ermöglicht ihm die Konstruktion des Buches immerhin, sich Minute für Minute an den Ereignissen des 11. Septembers entlang zu bewegen. In den ungeraden Minuten nämlich wird der Immobilienmakler Carthew Yorston mit seinen beiden Söhnen Jerry und David beschrieben, in den geraden Minuten hingegen meditiert Beigbeder über sich und sein Schreiben, wobei er Allgemeines mit Persönlichen zu einer eigentümlichen Melange vermengt.

Manche der Blicke hinter die Stirn eines Autors sind durchaus erhellend, aber insgesamt betreibt Beigbeder eine in der Literatur noch ungewohnte Form des Exhibitionismus: Jammern auf hohen Niveau über die eigene beschwerliche Situation, obgleich die artikulierten Sorgen nichts als Wohlstandssorgen sind. Er, Beigbeder, klassifiziert sich selbst als einen Prominenten zweiter Klasse. Vom Image her möchte er offenbar einen Spagat vollziehen: Popstar sein, und Anti-Popstar zugleich – ein Marilyn Manson für Neureiche.


Der Autor als Mittler - oder als Mittelpunkt?

Dass sich der Schreibende in seinem Werk immer wieder selbst zu Wort meldet, hat Tradition. Die hellenischen Autoren pflegten die Anrufung der Muse mit einem persönlichen Vorspann zu überkreuzen, voller Inbrunst und Pathos, aber zugleich die Bedeutungslosigkeit des Schreibenden betonend, der weit hinter seinen spirituellen Ideengeber zurücktritt und lediglich als Medium in Erscheinung tritt.

Im christlichen Abendland dagegen war diese Art der Selbstdarstellung weniger pathetisch, sondern viel öfter augenzwinkernd oder gar im schelmischen Gestus gehalten (Rabelais "Gargantua und Pantagruel" etwa, oder später Flann 0´Brians "Im Schwimmen zwei Vögel"). Milan Kundera schließlich nutzte die Romane, um nur noch die eigene Person in den Vordergrund zu rücken und teilweise gar zu glorifizieren. Anstelle der Musen treten bei ihm die Herren von Goethe oder Hemingway in Erscheinung, die wie auf dem Olymp der Literatur vereint sitzen und über die Schreibkunst diskutieren ("Die Unsterblichkeit"), immer unter der gestrengen Aufsicht von Kundera höchselbst.

Beigbeder hingegen hat eine ganz andere Richtung eingeschlagen: Er braucht weder Musen noch Schelmereien, sondern mimt lieber ausgiebig den Anti-Helden, leicht zynisch und leicht depressiv. Anders gesagt, anstelle von Größenwahn herrscht hier Selbstmitleid vor. Beigbeder beklagt, dass er das Opfer einer bösen Weltkonstellation geworden ist, und als Kind des Kalten Krieges auf heißlaufende Weltkonflikte ziemlich schlecht vorbereitet ist.

Seine Larmoyanz wird schon in dem Eingangszitat deutlich, das anscheinend Beigbeders kleinen Tochter gilt: „Verzeih mir, Chloë, dass ich auf diese zerstörte Welt dich zerrte." Diese Haltung ist symptomatisch, vor aller Leserschaft bekennt der Vater, dass er es als Anmaßung empfindet, ein Kind gezeugt zu haben. Wie wäre es, würde er erst einmal das Kind selbst hören, das die Welt des 21. Jahrhunderts, in die es hineinwächst, nicht unbedingt als zerstört empfinden muss. Im übrigen dramatisiert Beigbeder den 11. September enorm (hierin ist er beileibe kein Einzelfall): Im Vergleich zu den zerbombten europäischen Großstädten im 2. Weltkrieg ist die Zerstörung des World Trade Centers letztendlich doch nur ein Räuspern in der Weltgeschichte.

Kurzum, Beigbeder mag zwar ausgiebig über den Einsturz des WTCs meditieren, in Wahrheit bedauert er sich nur selbst. Nicht seine Tochter, sondern er selbst lebt plötzlich in einer als zerstört empfundenen Welt, die so gar nichts mehr mit dem Playmobilidyll seiner eigenen Kinderstube zu tun hat. Im Gegensatz zu vielen anderen "Bekenntnisprosa-Autoren" verzichtet er dabei allerdings auf jede Form der Selbststilisierung, sondern steht offen und ehrlich zu seinen fragwürdigen Motiven, und das macht ihn, den Verlegenheitszyniker, wiederum sehr sympathisch, seine Ehrlichkeit ist mitunter frappierend. Und an dieser seiner Haltung lässt sich dann auch unschwer die allgemeine Desorientierung der westlichen Welt erkennen.


Der 911-Roman – ein neues Genre?

Die Bemerkung, ein Buch über den 11. September nur deshalb geschrieben zu haben, weil es erschüttert, kommt nicht von ungefähr. Gegen Ende des Buches versucht Beigbeder noch einmal, seine Themenwahl zu begründen, als stünde jeder Autor, der dieses Thema bearbeitet, a priori unter Rechtfertigungszwang. Aber noch immer stößt er auf das Nichts, er gesteht ein:

"Ich weiß wirklich nicht, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Vielleicht, weil es mich absolut nicht reizte, etwas anderes zu schreiben. Was hätte ich sonst schreiben sollen? Die einzig interessanten Themen sind tabu. Man muss schreiben, was verboten ist. Die französische Literatur ist eine lange Geschichte des Ungehorsams. Heute müssen die Bücher weiter gehen als das Fernsehen. Sie müssen das Unsichtbare zeigen, das Unsagbare sagen."

Kurzum, Beigbeder zweifelt daran, ob der Leser auf inzwischen 340 Seiten verstanden hat, weshalb er dieses Buch überhaupt lesen soll. Der Autor erkennt die Fundamentlosigkeit seines eigenen Werkes, und bekennt sich zu eben diesem Versagen. Was ihn zweifellos erneut sympathisch macht, denn es fügt sich sehr gut ein in die Reihe von Neuerscheinungen, die immer öfter Titel tragen wie "Schöner Scheitern". Aber was ist die Quintessenz davon? Dass nun der Leser den armen Autor über dessen Versagen hinwegtrösten soll?

Sätze wie "Man muss schreiben, was verboten ist", helfen nicht weiter. Sie sind vielmehr symptomatisch für die rhetorischen Hülsen des Franzosen. Ich nehme Beigbeder einmal beim Wort und stelle mir eine Literatur vor, in der jeder Schriftsteller nur noch das Verbotene tut. Der eine schreibt dann wohl Nazi-Pornos, der nächste fabuliert Monica Lewinskys Praktikum bei Usama bin Laden? Dann wäre ja das Verbotene geradezu "Gebot der Stunde"!?

Zugegeben, auch ein anerkannt großer Autor wie Flaubert hat seinerzeit mit "Madame Bovary" ein Tabu gebrochen, und Goethes "Werther" war eine enorme Provokation mit unübersehbaren Folgen. Aber am Grad der Brüskierung allein lässt sich nicht automatisch der Kunstwert messen.

Außerdem täuscht sich Beigbeder: Sein Thema nämlich ist keineswegs verboten. Dass sich vor ihm kein bedeutender Autor an dieses Thema heranwagte, hat einen simpleren Grund. Dieses Thema ist schlichtweg mit zu vielen Emotionen besetzt, aus gutem Grund fühlen sich die Literaten davon überfordert.

Denkbar ist allerdings, dass nach der Schwemme an Polit-Büchern zum 11. September mit "Windows of the world" auch in der Literatur versucht wird, ein neues Genre zwangszuerschließen: Nachdem man jahrzehntelang vergeblich nach dem Wenderoman gefahndet hat, wird das Feuilleton der Zukunft womöglich den "911-Roman" einfordern – aber vermutlich auch hier nur das Scheitern diagnostizieren können. "Windows of the World" jedenfalls ist für dieses Misslingen schon einmal ein überaus passabler Aufgalopp.


Doppel-Perspektive

Die ersten der 120 Kurzkapitel lesen sich, als habe Beigbeder die Infokästen zum 11. September aus den jeweiligen Spiegel-Chroniken abgeschrieben. Da doziert der Zufallsbesucher Carthew Yorston beispielsweise um 08:31 vollmundig über die Sicherheitssysteme im World Trade Center. Hätte Beigbeder eingangs nicht Tom Wolfe zitiert, der von dem modernen Schriftsteller verlangt, er müsse realistisch schreiben, dann wäre dieser Lapsus eher verzeihlich gewesen.

Ich stelle mir die Frage, wie realistisch es sein mag, wenn sich ein Tourist im WTC just vierzehn Minuten vor dem Einschlag des ersten Flugzeugs ausgerechnet über die Sicherheitssysteme den Kopf zerbricht und ausgiebig die Eckdaten des Gebäudes im Kopf durchdekliniert (auch wenn er ein Immobilienmakler ist, der berufshalber durchaus an Gebäudedaten interessiert sein könnte). Meines Erachtens verrät der Autor damit nur, dass seine eigenen Gedanken bei der Niederschrift bereits auf das fixiert sind, was erst in vierzehn Minuten zu schildern sein wird.

Wäre dies der einzige Fehler, erschiene solche Kritik kleinkariert. Aber immer wieder verstören diese undurchdachten Storylinien. Am eigenartigsten ist aber, dass die beiden Hauptfiguren, der texanische Immobilienmakler Carthew Yorston und der französische Schriftsteller Frédéric Beigbeder sich immer mehr aneinander annähern. Zuletzt verschmelzen sie fast zu einer Figur mit identischer Denkhaltung, dass es immer schwerer fällt, die sich abwechselnden Kapitel auseinander zu halten. Und das ist besonders deshalb kurios, weil der Texaner als gewissensarmer Ekel der us-amerikanischen Oberschicht geschildert wird, Beigbeder dagegen den redefreudigen europäischen Linksintellektuellen mimt.

Richtig lustig wird es, wenn der Texaner völlig unmotiviert Franz Kafka zu zitieren beginnt, ein Zitat, das er in einem Reiseführer gefunden haben will. Kafka nämlich beschrieb in „Amerika“ die East Bridge, und zwar, ohne je in Amerika gewesen zu sein:

„Ich schaue auf das Gebäude der Chase Manhattan Bank, links davon die Manhattan Bridge, rechts der South Street Seaport am Ende der Fulton Street, und könnte es trotzdem nicht so beschreiben.“

Hand aus Herz, wer verlangte von einem Immobilienmakler eine poetische Beschreibung von Manhattan? Wohl aber von dem Autoren Beigbeder, der vielleicht darüber staunen mag, wie sein Kollege Franz Kafka das hinbekommen hat (sofern der das nicht seinerseits irgendwo abgeschrieben hat).

Bezeichnend, wenn ein Autor sich auf zwei Charaktere beschränkt und eine der beiden Rollen selbst ausfüllt, und dennoch partout nicht schafft, diese beiden Figuren auseinander zu halten. Diese Lässlichkeit offenbart sich sehr deutlich in den Passagen über Cat Stevens. Den nämlich findet nicht nur Carthew Yorston toll (ein eigenartig sentimentaler Musikgeschmack für einen knallharten Businesstypen), später wird auch Beigbeder von diesem zum Islam konvertierten Popstar schwärmen.

Eine tiefere, strategische Absicht der Parallelität dieser beiden Ich-Figuren konnte ich jedenfalls nicht ausmachen. Und da sind noch viele weitere ärgerliche Momente: Der eine Sohn von Carthew etwa leidet unter heftigen Nasenbluten – und wie sich später zeigt, hat Beigbeder seinerseits als Knabe heftiges Nasenbluten gehabt:

"Als ich fünf war und sich meine Eltern scheiden ließen, blutete ich so oft aus der Nase, dass die Ärzte schon dachten, ich hätte Leukämie."

Einfallsreichtum und Vorstellungsvermögen kann man Beigbeder beileibe nicht attestieren.

Ärgerlich auch, wenn Yorston als texanischer Tourist in New York immer wieder von sich selbst spricht: „Amerikanische Touristen wie ich ...“. Als würde ein Bayer bei seinem Besuch in Berlin ausdrücklich betonen, er sei ein Deutscher Tourist. Oder Sätze wie dieser: "Wir fuhren oft durch Texas, den größten Bundesstaat der USA". Für einen Mann, der angesichts des nahenden Todes ein Selbstgespräch führt, sind das ohnehin recht seltsame und umständliche Wendungen.

Versucht man eine Ausdeutung, könnte man mit Mühe hinnehmen, dass hier die Arroganz des reichen Texaners gezeigt werden soll. Denn in der Tat hat der Makler eingangs auf seine breite amerikanische Brust getrommelt, ganz im Gestus des Herren der Welt hat er sich immer wieder als zynisches Schwein zu erkennen gegeben. Im Verlauf der Geschichte aber zeigt er sich zunehmend moderater und auch nachdenklicher.

Der Beigbeder der ersten Seiten hingegen versucht, scharfe Pfeile auf die Franzosen abzuschießen: Die seien nur von ihrem Neid auf die Supermacht USA zerfressen, verhielten sich wie seinerzeit die Provinz, die über das Sündenbabel Paris lästerte – aber es insgeheim doch bewunderte und sogar nachäffte.

Beigbeder gibt also eingangs den Amerikafreund, der sich über den Antiamerikanismus in Europa mokiert, doch nach und nach wandelt sich das Bild. Ebenso der Texaner Yorston, der von seiner Blasiertheit immer weiter abrückt und sich zuletzt auffallend selbstkritisch über die Rolle Amerikas in der Welt äußert – die Todesnähe mag ein Argument für diesen Gesinnungswandel sein.

Der Ich-Autor Beigbeder hingegen weicht scheinbar grundlos von seiner Amerikafreundlichkeit ab und mutiert auf einmal zum sanften Kritiker, wobei man sich wundert und nirgendwo deutlich gemacht wird, wieso er dieses widersprüchliche Land eingangs so großsprecherisch verteidigt hat. Nach allen Seiten auskeilen, damit jeder sein Fett abkriegt – dieser Eindruck drängt sich spätestens hier auf (allerdings prügelt er sogar auf sich selbst ein, wodurch dieser Rundumschlag dann doch konsequent ist).


Fiktionen

Allem Bemühen um Realismus zum Trotz muss Beigbeder natürlich auch ein bisschen fabulieren. Über das Szenario im Turm selbst hält er sich merklich bedeckt, das Interieur des "Windows of the world" bleibt blass, vielmehr spielt sich die Geschichte in den Gedanken von Yorston ab. Der Texaner erinnert sich an Vergangenes, oder bemüht sich vergebens, seine Söhne zu belügen, wobei er Benignis "Das-Leben-ist-schön"-Methode zu Hilfe nimmt.

Das Interieur der oberen Stockwerke im WTC bleibt hierbei genauso blass, wie die Figuren es bereits sind. Yorston und seine Söhne werden nur sehr oberflächlich skizziert, hinzu kommen ein paar stereotype Protagonisten, eine verheulte Schwarze und andere für Katastrophengeschichten typische Figuren, deren Rolle einzig darin besteht, auf individuelle Art mit dem tödlichen Schicksal umzugehen.

Yorstons Schilderungen sind Gedankengänge, manchmal auch Gedankenlabyrinthe. Sobald es aber darum geht, seine Befindlichkeiten zu zeigen, also das Wechselbad zwischen Angst und Hoffnung, in dem Todgeweihte wie er schweben müssen, versagt das Buch völlig. Auch die Vielzahl der Schicksale, die Zufallsgemeinschaft dieser zum Tode Verurteilten, wird nicht ausgearbeitet, obwohl hierin eigentlich ein großes Potential läge. Denn dass die Gefangenen schwitzen und sich wie auf dem Bratrost oder in der Hölle vorkommen und nach Luft japsen – dazu braucht es wenig Fantasie.

Das Leid, die Angst, die Verzweiflung der Eingeschlossenen wird nüchtern, fast desinteressiert dargestellt. Und die Benigni-Methode, welche Yorston seinen Söhnen gegen über anwendet ("alles ist nur ein Spiel"), funktioniert auch nur bedingt. Weil niemals ein echtes Mitgefühl zu den Opfern aufkommt, weil man außenvor bleibt hinter rhetorischer und auch zynischer Floskel. Und jede Identifikationsmöglichkeit ist einem genommen: Der Texaner Yorston bleibt bis zuletzt ein selbstsüchtiges Zynikerschwein, das erst angesichts des nahen Todes auf ein paar interessante Gedanken kommt. Bedauern kann man solch einen Menschen nur mit Mühe.

Nein, "echt" wirken die Schilderungen aus dem "Windows of the World" nicht, viel eher sind sie synthetisch und eindimensional. Der Realismus in Gestalt von Ohnmacht oder Panik fehlt – Bewusstseinsmomente von Todgeweihten setzen sich vermutlich weniger aus Gedankeninhalten zusammen, denn aus einem diffusen stream-of-conciousness. Die Abgeklärtheit, mit der Yorston sein Ableben schildert, hat von Anbeginn etwas Posthumes. Als erzählte uns hier der bereits Tote von seinen letzten Stunden. Was durchaus eine Strategie hätte sein können, aber dem steht wiederum die gewählte Zeitform entgegen: Beigbeder verwendet das Präsens.

Zum Ende des Buches beschließt Beigbeder, noch ein paar Sexmotive zu integrieren, als wolle er die fade Kost nachwürzen. Dass Todgeweihte unter dem enormen Psychostress auf die verrücktesten Ideen kommen, ist nachvollziehbar. Beigbeder nutzt diese Chance zu einer ausgefallenen Pornoszene. Aber die Art, wie sie geschildert wird, ist erneut fragwürdig. Da sagt da die Frau beispielsweise zu ihrem Geliebten:

"Spürst du meine drei Finger in deinem Arsch?"

Aha, drei Finger also, nicht vier, nicht zwei. Klar, weil man das als Befummelter ja weder so genau spüren, noch sehen kann, also muss man es gesagt bekommen! Via Dialog versucht Beigbeder also, Sexuelles zu schildern, doch wirkt es amateurhaft, erinnert bestenfalls an de-Sade-Palaver, bei dem Franzosen dürfen die Dekadenten ja ebenfalls großmächtig über ihre eigenartigen Liebesübungen plappern, so als spielten sie in Wahrheit bloß Bridge. Bei Beigbeder klingt das dann so:

"Warte, erst fiste ich deine triefende Fotze bis zu meinem Oberarm."

Wie man mit ganz einfachen Mitteln Angst und deren anverwandten Gefühle skizzieren kann, haben andere Katastrophenbücher wunderbar aufgezeigt. Don DeLillos Roman "Weißes Rauschen" etwa. DeLillo agiert ebenfalls aus der Ich-Perspektive des Familienvaters, aber sein Stil ist weniger kopflastig und auch kein bisschen feuilletonistisch. DeLillos Hauptfigur ist aufrichtig um seine Kinder besorgt, zeigt eine emotionale Kompetenz, anstelle wie Yorston unablässig sein eigenes Schicksal zu bedauern.

Beigbeder hingegen konzentriert sich auf sehr wenige Figuren, Panoramabilder sucht man hier vergeblich. Dafür bekommt der Leser ausgiebig Gedankenprosa für sein Geld – aber mit Gedanken allein lässt sich nur schwer eine plastische Welt erzeugen.


Essayismus in der Literatur

Beigbeders Essayismus lehnt er sich deutlich an den Essayismus von Milan Kundera an, und Kundera wird in seinem Buch auch direkt zitiert. Beigbeders Hemingway-Ergüsse erinnern stark an dessen Hemingway-Kapitel in "Die Unsterblichkeit". Leider sind sie, wie die vergleichbaren Passagen in Kunderas Roman, auch bei Beigbeder zu den schlechtesten zu zählen. Es passt wohl nur deshalb ins Konzept, weil dieser neben Henry Miller zu den wenigen prominenten us-amerikanischen Autoren zählt, die sich literarisch mit Paris auseinandergesetzt haben. Beigbeder hält es für ratsam, auch diesen amerikanisch-französischen Kontext zu bedienen, koste es, was es wolle.

Der Essayismus in Romanform mutiert zu einem anstrengenden Selbstgespräch. Er passt sich gut ein in die Zeit von Reality-Formaten im Fernsehen, wie in den Containershows findet auch hier ein Striptease statt, da Beigbeder die eigenen Gedanken transparent macht und seine Stirn in ein Glashaus verwandelt. Ein Exhibitionismus und Egokult, der womöglich eine andere Schwäche überdecken soll: Die Unfähigkeit zum mehrdimensionalen Erzählen.

Ich-Romane haben seit einiger Zeit Hochkonjunktur, insbesondere in der sogenannten "Popliteratur". Was aber den Roman seit jeher ausgezeichnet hat, war das Panorama, war das Entwerfen von mehreren tragenden Charakteren, deren Konflikte untereinander aufgezeigt wurden, war das Aufspannen eines größeren, zeitlicher Bogens, kurzum: Das, was man einst Bildungs- oder Entwicklungsroman nannte.

Die einzige Dimension von "Windows of the world" ist die sich verändernde Weltwahrnehmung des europäischen Intellektuellen, und zwar auf der Ebene der politischen Systeme. Und hier ist Beigbeders Buch durchaus von Belang. Sobald man die erzählende Prosa abhakt und den Essay-Grundgedanken isoliert betrachtet, erhält das Buch sogar eine weitreichende Bedeutung, nämlich eine kulkurpolitische: Beigbeder deutet einen unausweichlichen Wandel im demokratischen Selbstverständnis des Westens an, und zeigt damit auf, dass er – allem Zynismus zum Trotz – ein engagierter, linksliberaler Denker ist.


Politische Weltbilder

"Ich habe genug davon, hoffnungslose Romane zu schreiben. Genug von fruchtlosen postexistentialistischen Wirrungen. Genug davon, ein Fänger im Roggen zu sein, der nichts fängt. Ich suche nach der nächsten Utopie."

Und die sucht er nun wirklich. Während gegen Ende von dem allmählich erstickenden Yorston immer weniger zu vernehmen ist, zeichnet Beigbeder einen Doppelkonflikt auf: Einerseits geht es ihm um das Scheitern seiner ganz persönlichen Liebe, die Infragestellung der Liebesfähigkeit an sich. Dieses rein Private überbläht die gesamte Handlung, wird aber essayistisch instrumentalisiert: Der Familiensinn ist dem Einzelgängermenschen des Westens abhanden gekommen. Und hierfür findet er keine neue Utopie.

Der andere Konflikt hingegen erscheint durchaus als Utopie. Beigbeder überlegt, wie die Demokratien westlicher Prägung auf diesen 11. September reagieren sollten. Er kommt zurück auf den eingangs gezogenen Vergleich mit Paris und der Provinz zur vorrevolutionären Zeit. Und plötzlich steht, ohne dass er es explizit formuliert, das Bild da: Die Erste Welt, angeführt von den USA, verkörpern den französischen Adel vor der Revolution.

Zwar achtet er darauf, nirgendwo das Wort "Weltrevolution" zu verwenden, aber dennoch schwingt es unverkennbar zwischen den Zeilen mit. So überlegt er beispielsweise, ob es möglich wäre, weltweit eine Demokratie zu installieren, die ihren Namen auch verdient, und bringt damit den Gedanken des Weltstaates ins Spiel. Ein Gedanke, der zur Zeit eigenartigerweise nirgendwo, nicht einmal in dem so geduldigen Feuilleton eine Randnotiz wert zu sein scheint. Die Arbeit der UNO stellt die Cosmopoliten von heute anscheinend zufrieden, obwohl jedem klar sein müsste, dass sie in gegenwärtiger Form lediglich als moralischer Keuschheitsgürtel fungiert.

Beigbeder hingegen überlegt, ob eine UNO, die wirklich Macht hätte und über allen Nationalstaaten stünde, eine weltweite Gerechtigkeit etablieren könnte, eine, die die Erste Welt von sich aus nicht zu schaffen imstande sein kann – ähnlich, wie der französische Adel sich nur als zwangsreformierbar erwiesen hatte.

Und jetzt wird es unverkennbar: Es geht nicht länger um Amerikafreundlichkeit oder Amerikafeindlichkeit, bei Beigbeder sind tatsächlich alle Bürger der wohlhabenden Länder Amerikaner.


Das Ich klagt sich an

In diesem Zusammenhang steht eine Selbstanklage, die aus dem Buch herausragt, und endlich aufräumen möchte mit dem ständigen "die anderen machen ja auch nichts", um die eigenen, latenten Inhumanitäten zu deckeln. Beigbeder gesteht hier offen seine eigene Charakterschwäche ein, wobei er Emile Zolas berühmtes "J´accuse" ("Ich klage an") während der Dreyfuß-Affäre kolportiert. Nur erinnert Beigbeders Anklage vielmehr an ein verzweifeltes Gebet:

"Als Zola der Reichen muss ich jetzt endlich schreiben: "Ich klage mich an!"
Ich klage mich an, selbstgefällig und narzisstisch zu sein.
Ich klage mich an, ein Park-Avenue-Linker zu sein.
Ich klage mich an, karrieregeil und käuflich zu sein.
Ich klage mich an, neidisch und frustriert zu sein.
Ich klage mich an, Aufrichtigkeit zu heucheln ...
Ich klage mich an, mit dieser Selbstanklage nicht nur den Prügeln zuvorkommen zu wollen, die mich erwarten, sondern auch noch Eindruck schinden zu wollen. Ich klage mich an, mit zweierlei Schärfe zu sehen ...""

Und nach zwei Seiten unablässiger Selbstdemontage schließt er dann, in einer Art Urteilsspruch:

"Ich klage mich an, fasziniert zu sein von allem, was kaputt ist, denn gleich und gleich gesellt sich gern.
Und nun zum Urteil:
Ich verdamme mich zu lebenslänglicher Einsamkeit."

Hier könnte man folgenden Kernsatz herausarbeiten: Das Individuum hat sich auf dem Pfad der Freiheit weit über die Grenze des Gesunden hinausbewegt, und ist in einer Wüste angekommen, die zwar nach allen Seiten hin unendliche Horizonte von Möglichkeiten eröffnet, aber zugleich eine totale Beliebigkeit mit sich bringt, in Begriffen wie Zynismus, Isolation, Depression, ja schlimmer noch: Agoraphobie.








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